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Neu oder modern? Zufall oder Notwendigkeit?
Anmerkungen zur Musik der Gegenwart

Elmar Budde

Neu oder modern? Zufall oder Notwendigkeit? – so die thematische Doppelbeschriftung meiner folgenden Ausführungen. Dass ich beide Überschriften mit einem Fragezeichen versehen habe, ist nicht Ausdruck definierender Unsicherheit, hat also nichts mit einem Entweder-Oder zu tun, sondern diese Fragezeichen zielen auf die Sache selbst. Es gilt, auf das, was uns als neu oder modern bewegt und beunruhigt, wenn auch nicht gleich eine bündige Antwort, zumindest aber doch Perspektiven zu finden und nachzuzeichnen, die einen Blick hinter diese Fragezeichen ermöglichen. Ist dieses Neue eigentlich notwendig, so wird man fragen, oder ist das Neue nichts weiter als etwas Zufälliges, etwas, das uns irritieren und vielleicht sogar erschrecken soll, das alles das, was uns lieb geworden ist, nicht nur in Frage stellt, sondern sogar verächtlich macht?
Doch was heißt überhaupt notwendig? Ist nicht alles doch Zufall? Entsteht das Neue aus einer Notwendigkeit? Aus einer inneren Not? Gibt es eine Instanz, die das Neue als das Notwendige bestimmt, als das, was zu eben diesem Zeitpunkt geschehen muss? Oder ist es nur der gesellschaftlich-kommerzielle Betrieb, der sich stets Neues schaffen muss, um seinen Betrieb in Bewegung zu halten?
Dann gibt es noch das andere Wort „modern“. Ist das Neue, so ist zu fragen, auch immer das jeweils Moderne? Ich sage bewusst: das jeweils Moderne. Damit habe ich bereits angedeutet, dass – zumindest umgangssprachlich – das Moderne als etwas Jeweiliges immer zeitgebunden ist; das Moderne ist immer nur das jeweils Moderne. Um das Moderne noch um einen Schritt weiter zu steigern, hat man inzwischen im Blick auf die Künste neuerdings das Wort aktuell entdeckt. Die in diesem Frühjahr von den Berliner Festspielen veranstalteten Tage für neue Musik hatten den programmatischen Titel: Festival für aktuelle Musik. Das jeweils Moderne steigert sich zum jeweils Aktuellen, das heißt, dem Modernen und dem Aktuellen dsind auf Grund ihrer grundsätzlichen Zeitgebundenheit das Unmoderne und das Nicht-mehr-Aktuelle wesentlich eingeschrieben. Was heute modern ist, ist morgen unmodern, was heute aktuell ist, gehört morgen zum alten Plunder. Doch wie steht es mit dem Neuen, mit dem, was wir das Neue nennen? Ist dem Neuen auch das Unmoderne, das Nicht-mehr-Aktuelle, also das Überholte und Veraltete eingeschrieben? Sind neu, modern, aktuell Synonyma?
Die Frage nach dem Modernen und dem Aktuellen lasse ich offen (die Moderne). Im Folgenden möchte ich versuchen, eine Antwort im Blick auf das so genannte Neue zu skizzieren, das in der bildenden Kunst (Gleiches gilt für Szene, Theater und Film) nur zu oft auf den Rezipienten den Eindruck des Zufälligen und schließlich sogar den des Unverständlichen vermittelt, und das in der Musik durchweg einhergeht mit hässlichen Klängen, unverständlichen Tonhaufen, kreischenden Sängerinnen, Sprachgestammel etc., etc. Warum ist das Neue – im Sinne eines ästhetischen Erlebnisses – eigentlich immer so hässlich und so wenig einladend? Warum also das Neue? Warum nicht beim Alten bleiben? Wer sich mit der Kunst des 20. Jhs. beschäftigt (die zwei Jahre des 21. Jhs. darf ich dem 20. Noch zurechnen), wer sich also mit dieser Kunst (diesen Kunstäußerungen) auseinander setzt, der sieht sich auch heute noch immer wieder mit diesen Fragen konfrontiert. Man könnte diese Frage nun als naiv, borniert und dümmlich abtun nach der Devise: Ihr versteht nichts davon. Nun, so einfach ist das nicht. Eines können wir diesen scheinbar naiven Fragen immerhin entnehmen, nämlich, dass das Neue, was immer das auch sein mag, sich nicht nur vom so genannten Alten, das heißt dem Gewohnten, das man zumeist für etwas Wertvolles hält, absetzt, sondern dass das Neue sich gegenüber dem Alten kritisch und konträr verhält. Das Neue und das Alte scheinen also untrennbar aufeinander bezogen, vielleicht sogar miteinander verknüpft zu sein. Alle Erscheinungen der Kunst im 20. Jahrhundert, die sich programmatisch als neu begreifen, verstehen sich nicht als einmaliger Knalleffekt (durchaus nicht als modisch oder aktuell), vielmehr ist ihnen immer ein wie auch immer gearteter Sinn eingeschrieben. Selbst wenn ein solches Ereignis sich bewusst als einmaliger Knalleffekt definiert, dann steckt auch in dieser Selbstbestimmung ein Sinn; denn auch das Sinnlose wird als solches nur verständlich im Kontext des Sinnhaften. Die Fragen, die bei unseren Vorüberlegungen, so möchte ich sie zunächst nennen, sich einstellen, zielen also auf eine einzige Frage, nämlich auf die Frage nach dem Sinn des Neuen. Ob wir es wollen oder nicht wollen, die Frage nach dem Sinn oder auch nach dem Unsinn des Neuen wird uns ständig verfolgen, und wenn uns diese Frage nicht verfolgen und beunruhigen würde, dann gäbe es wohl auch kein Symposion über „Das Neue“.
Meine Damen und Herren, was ist also das Neue? Lassen Sie mich als Historiker, der ich bin, einen Blick zurück in die Geschichte der abendländischen Musik tun. Wann begegnen in dieser Geschichte, die ja unsere Geschichte ist, zum ersten Mal Erscheinungsformen, die sich programmatisch als neu begreifen. Wann beginnt das Neue?, so unsere Frage
Dieser Zeitpunkt, an dem zum ersten Mal die Musik sich gegenüber der tradierten, das heißt offiziellen Musik, als neue Musik programmatisch definiert, ist um 1600 in Italien zu lokalisieren. Hier tritt im ausgehenden 16. Und beginnenden 17. Jahrhundert eine Musik in Erscheinung, die sich nicht nur in ihrer Struktur von der damals traditionellen Musik unterscheidet, sondern die sich, und das ist in jeder Hinsicht neu, programmatisch gegen die traditionelle Musik richtet. Die traditionelle Musik, das ist die kontrapunktische Musik, das heißt die geistliche Musik, die Musik der Kirche; die neue Musik hingegen, die sich als „Nuove Musiche“ bezeichnet, ist in ihrem Anspruch eine weltliche Musik; eine Musik für diese Welt und nicht für die jenseitige. Diese Musik ist in jeder Hinsicht radikal neu; einmal auf Grund ihres ästhetischen Programms, das in seinem radikalen Anspruch zugleich ein politisches Programm ist: Denn die grundlegende Forderung dieses Programms besteht ja darin, dass die Musik die Affekte des Menschen rühren soll, die Musik ist nicht für Gott komponiert, sondern für den Menschen; diese neue Musik beruht auf der Sprache, und als Sprache will sie verständlich sein. Zum anderen ist diese Musik radikal neu in ihrer musikalisch-kompositorischen Struktur, so vor allem in dem sprechenden Tonfall ihrer Melodik und in ihrer Harmonik. Diese „Nuove Musiche“ ist von einer vorher nicht bekannten sinnlichen Wahrnehmbarkeit; stets impliziert sie eine affektbezogene Wirkung auf den Hörer. Die Sängerinnen, Sänger und Instrumentalisten sprechen, singen und spielen so, als ob sie von den in den Gedichten und Texten ausgedrückten Empfindungen ganz erfüllt seien; erfüllt, um den Höher zu eben diesen Empfindungen zu bewegen. In dieser neuen Musik um 1600 beginnt sich ein neues Verhältnis von Komponist, Interpret (so würden wir heute sagen) und Hörer auszubilden; ein Verhältnis, das bis heute von weit tragender Bedeutung sein wird. In der Art eines dialogischen Kriegsmanifests wurden diese neuen Gedanken und Ideen zum ersten Mal diskutiert in dem „Dialogo della musica antica e della moderna“ von Vincenzo Galilei, dem Vater des Astronomen (1581). Hier wird zum ersten Mal grundsätzlich unterschieden zwischen einer musica antica und einer musica moderna. Dass dieser „Dialogo“ damals nicht auch auf den Index gesetzt wurde wie später der seines Sohnes Galileo, verwundert noch heute.
Das Neue, das in dieser „Nuove Musiche“ bzw. „musica moderna“ programmatisch formuliert wird, bedeutet Kampfansage, bedeutet Veränderung und bedeutet schließlich eine neue Gesellschaft, eine neue Welt. Dass das Neue einhergeht mit utopischen Vorstellungen einer veränderten Welt und Gesellschaft, hat sich bis heute kaum verändert; was sich schließlich auch nicht verändert hat, ist, dass dieses Neue seinen Anspruch erst in der Konfrontation und in der Auseinandersetzung mit dem Alten gewinnt und entfaltet.
Meine Damen und Herren, noch auf einen zweiten epochalen Sprung in der Geschichte der abendländischen Musik möchte ich verweisen, ehe ich auf Probleme unserer Gegenwart zu sprechen komme, denn ohne diesen epochalen Sprung wäre alles das, was uns heute bewegt und beunruhigt, kaum bedenkenswert. Ich meine jene umwälzende Entwicklung von der barocken zur so genannten klassischen Musik. Diese Entwicklung um die Mitte des 18. Jahrhunderts bedeutet mehr als eine Stilwandlung. Sowohl in ihrer Klanggestalt als auch in ihrem Anspruch, der sowohl ein ästhetischer als auch ein politisch-gesellschaftlicher Anspruch ist, unterscheidet sich diese Musik von der bis dahin bekannten, das heißt der Barockmusik. Wir nennen diese Musik heute die klassische Musik; doch diese Bezeichnung entstammt dem 19. Jahrhundert, die Musik begriff sich vielmehr als Musik der Aufklärung, und so sollten wir sie auch weiterhin nennen.
Die Musik beansprucht, eine Sprache zu sein, und zwar eine Sprache durchaus im Sinne der meinenden Sprache (das heißt unserer Umgangssprache). Die Musik sollte als Sprache (unabhängig von einem vorgegebenen Text) die Fähigkeit besitzen, wie ein Zeitgenosse es formulierte, „den tonleidenschaftlichen Ausdruck des Gefühls“ zu artikulieren und vor allem zu vermitteln. Musik wurde nicht nur als Sprache der Gefühle und der Empfindungen verstanden, sondern darüber hinaus auch als eine Sprache, in der Gedanken und Ideen sich ausdrücken ließen; aber das konnte und durfte nur auf vernünftige Weise geschehen. Der konstruktive Kosmos der barocken Musik, ihre strukturelle Komplexität, insbesondere ihr kosmologischer „Zeit“-Anspruch, wurden als widernatürlich abgelehnt. Nicht mehr gilt Pythagoras als Erfinder der Musik, sondern die Natur selbst. Die Musik möge doch endlich aus dem Brunnen der Natur trinken und nicht mehr aus den Pfützen der Mathematik, so heißt es bereits im „Vollkommenen Capellmeister“ von Mattheson. Im Vergleich zur barocken Musik ist die kompositorische Faktur dieser neuen, aufgeklärten Musik einfach und schlicht, doch gerade die Reduktion auf einfache musikalische Strukturen ermöglichten der Musik eine unendliche Vielfalt an Variationsmöglichkeiten, von schlichter Einfachheit bis zu äußersten Komplexität. Der Hörer galt nicht als Zuhörer, sondern als Dialogpartner; zwischen ihm und der Musik entspann sich jenes diskursive Spiel, das wir auch heute noch in jeder Komposition Haydns, Mozarts und zum Teil auch Beethovens erleben können, sofern wir als Dialogpartner der Musik zu diesem diskurzsiven Spiel bereit und fähig sind. Der Paradigmenwechsel, der hier stattfindet, ist in der Tat mit jenem Neuen der „Nuove Musiche“ vergleichbar. Die Musik zerschneidet endgültig ihre Rückbindung an die Musica ecclesiae. Als Sprache wird sie, um es pointiert zu sagen, von Menschen gesprochen und von Menschen verstanden.
Wir wollen nun nicht weiter verfolgen, was alles im 19. Jahrhundert an subjektiver Verinnerlichung, pathetischer Selbstdarstellung, pseudoreligiöser Offenbarung etc., etc. die Musik hat über sich ergehen lassen. Für unsere Überlegungen ist jener radikale Schritt um 1910 von zentraler Bedeutung, der sich programmatisch als neu definiert und der nicht nur in der Musik, sondern auch in den anderen Künsten sich vollzieht. Was sich um 1910 in den Künsten vollzieht, ist in der Tat so radikal neu und ist, was die künstlerischen Erscheinungsformen betrifft (also die Kompositionen, Bilder etc.), so neu geblieben, dass man als Historiker versucht sein könnte, das Neue als eine Art Stilkategorie zu bestimmen. Doch eine solche Bestimmung wäre nicht nur naiv, sie wäre, wie ich überzeugt bin, unverantwortlich; unverantwortlich allein schon deshalb, wenn man bedenkt, dass es Zeiten gab, in denen die Künstler und ihre Produktionen, die sich dem Neuen verschrieben hatten, als entartet, das heißt als menschenunwürdig galten. Gerade das 20. Jahrhundert mit allen seinen politischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Verwerfungen ist in den Künsten immer grundsätzlich bestimmt von der Idee des Neuen, des Anderen, und wohl auch von dem naiv-utopischen Wunsch, dass alles vielleicht einmal anders und besser sein könnte. Dem Neuen ist wohl immer – schon seit den Zeiten der „Nuove Musiche“ – der Wunsch nach dem Besseren und spätestens seit der Aufklärung auch der Wunsch nach besseren menschlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen eingeschrieben.
Wenn ich im Folgenden mich nun primär Schönberg und seiner Musik zuwende, so geschieht das nicht im Sinne einer dogmatischen Ausschließlichkeit, sondern ausschließlich deshalb, weil in Schönbergs Denken und insbesondere dann in seiner Musik das Neue als radikaler Bruch mit der Tradition und zugleich auch als Vollzug ebendieser Tradition zu verstehen ist. Wenn ich im Blick auf Schönberg von Tradition spreche, dann ist damit vor allem die Tradition der Wiener Klassik zu verstehen, also die Tradition jener programmatisch aufgeklärten Musik, die beansprucht, eine Sprache zu sein. Schönberg rekurriert auf diese Tradition; er will – jenseits des ästhetischen Schutts des 19. Jahrhunderts – eine Musik erfinden, die neu ist und zugleich den Anspruch einer aufgeklärten Musik bewahrt; eine Musik, die neu und traditionell in einem ist, eine waghalsige Aporie, wo will es scheinen.
Arnold Schönbergs Schüler haben berichtet, dass Schönberg, wenn er nach den Merkwürdigkeiten der Neuen Musik gefragt wurde, als Antwort gern eine kleine Episode aus seiner Militärzeit während des Ersten Weltkriegs erzählte. Schönberg wurde damals von einem vorgesetzten Militär nach seinem Namen gefragt. Als Schönberg seinen Namen genannt hatte, wollte der Vorgesetzte wissen, ob er etwa der Komponist Arnold Schönberg sei. Schönberg soll darauf geantwortet haben: „Keiner hat’s sein wollen, einer hat’s sein müssen, da hab ich mich dazu hergegeben“1).
Schönbergs Antwort ist mehr als ein zynischer Aphorismus. Mit aller Deutlichkeit wird gesagt, dass das Neue seiner Musik nicht ein Ausfluss subjektiver Verrücktheit darstellt, sondern als Ergebnis einer musikalisch-historischen Logik zu verstehen ist. Das Gefüge der Komposition, deren klangliche Außenseite fremdartig und ohne Bezug zur traditionellen Musik zu sein scheint, wird also von einer Logik bestimmt, die dem Diktat der Geschichte entspringt. Der Komponist betrachtet sich, so müssen wir annehmen, gewissermaßen als eine Art Vollstrecker übergeordneter musikalischer, historischer und mit Sicherheit sogar gesellschaftlicher Tendenzen und Entwicklungen. Das Besondere, das Neue und Neuartige einer Komposition entspringt also nicht dem puren ästhetischen Vergnügen, sondern beruht auf objektiven Voraussetzungen, die das Besondere der Komposition als notwendig erscheinen lassen.
Dass Historiker, Philosophen oder auch Soziologen sich historischer Konstrukte bedienen, um historische oder auch gegenwärtige gesellschaftliche Erscheinungsformen als folgerichtig, um nicht zu sagen, als notwendig zu erklären, wird kaum auf Widerspruch stoßen, denn wir bedienen uns ständig solcher Denkkonstrukte, dass indessen ein Musiker und Komponist seine künstlerisch-ästhetischen Produkte als folgerichtig und notwendig bezeichnet, erscheint, wenn nicht als Künstlermarotte, so doch zumindest als merkwürdig, wenn nicht gar widersprüchlich. Vielleicht könnte man auch meinen, ohne böswillig zu sein, dass Schönbergs Insistenz auf Objektivität und Notwendigkeit nichts weiter als den Versuch darstellt, das Disparate und stilistisch Sprunghafte seiner Werke zu erklären; ohne Zweifel erschien dem damaligen Hörer jede Komposition Schönbergs grundsätzlich verschieden zu sein von den unmittelbar voraufgegangenen. So etwas wie ein gemeinsames Band war weder wahrzunehmen noch auszumachen. Deshalb konnte der Hörer auch keine Kriterien entwickeln, denn jede neue Komposition Schönbergs schien einen Strich durch das zu machen, was man sich als Urteil zurechtgelegt hatte.
In der Tat scheint die Differenz gerade zwischen den Kompositionen, die Schönberg bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs komponiert hatte, schier unüberbrückbar zu sein. Zwischen dem Streichsextett „Verklärte Nacht“ op. 4 (1899) und dem „Pierrot lunaire“ op. 21 (1912) liegen 13 Jahre, also keine sehr lange Zeit; und doch fällt es dem Hörer auch heute noch schwer, Gemeinsames zwischen dem Streichquartett „Verklärte Nacht“, in dem sich wagnersche Klanggestik und ein an Brahms orientiertes konstruktives Denken merkwürdig verbinden, und dem „Pierrot lunaire“, dessen groteske Klangwelt jeder Logik zu entbehren scheint, zu entdecken und zu erleben. In den 13 Jahren zwischen der „Verklärten Nacht“ und „Pierrot lunaire“ hat Schönberg einen Weg zurückgelegt, dessen Radikalität und Unumkehrbarkeit er selbst in aller Deutlichkeit gesehen hat. Auch die Gründe für diese Radikalität und Unumkehrbarkeit wurden ihm zunehmend bewusst; sie machten ihm die Notwendigkeit dieses Weges und auch dessen Unumkehrbarkeit einsichtig.
Im Januar 1910 wurden im Verein für Kunst und Kultur in Wien Teile der Gurre-Lieder, die um 1900 komponiert worden waren, und die Klavierstücke op. 11 sowie die George-Lieder op. 15 aus den Jahren 1908-1909 zum ersten Mal aufgeführt. Im Vorwort zum Programmheft schrieb Schönberg unter anderem die folgenden Sätze: „Mit den Liedern nach George ist es mir zum ersten Mal gelungen, einem Ausdrucks- und Form-Ideal nahezukommen, das mir seit Jahren vorschwebt. Es zu verwirklichen, gebrach es mir bis dahin an Kraft und Sicherheit. Nun ich aber diese Bahn endgültig betreten habe, bin ich mir bewusst, alle Schranken einer vergangenen Aesthetik durchbrochen zu haben: und wenn ich auch einem mir als sicher erscheinenden Ziele zustrebe, so fühle ich dennoch schon jetzt den Widerstand, den ich zu überwinden haben werde; fühle den Hitzegrad der Auflehnung, den selbst die geringsten Temperamente aufbringen werden, und ahne, daß selbst solche, die mir bisher geglaubt haben, die Notwendigkeit dieser Entwicklung nicht werden einsehen wollen.“2)
Schönberg ist sich bewusst, das er sich gezwungen sieht, einen Weg zu gehen, auf dem ihm selbst seine Anhänger vielleicht nicht mehr folgen werden. Doch er gibt sich darüber Rechenschaft. Im Jahr 1911 veröffentlicht er eine Harmonielehre, in der er einerseits das traditionelle Harmoniesystem mit allen seinen denkbaren Kombinatoriken beschreibt, andererseits aber die historische Relativität dieses Systems darstellt. In dem er dieses System als ein historisch Gewordenes und nicht als eine von Natur gegebenes begreift, deutet er zugleich jene Tendenzen an, die über das System hinaus in andere Klangwelten reichen. In den Schlusskapiteln der Harmonielehre kommt Schönberg auf derartige Entwicklungen und Tendenzen zu sprechen. Er begründet diese Tendenzen, die zu Neuem führen, nicht nur mit dem Ausdrucksbedürfnis, sondern auch mit den utopischen Vorstellungen eines neuen Menschenbildes. „Das Neue und Ungewohnte eines neuen Zusammenklangs schreibt der wirkliche Tondichter nur aus solchen Ursachen: er muss Neues, Unerhörtes ausdrücken, das ihn bewegt. Für die Nachkommen, die daran weiterarbeiten, stellt es sich bloß als neuer Klang, als technisches Mittel dar; aber es ist weit mehr als das: ein neuer Klang ist ein unwillkürlich gefundenes Symbol, das den neuen Menschen ankündigt, der sich da ausspricht“3).
Schönberg scheint, so könnte man zunächst meinen, der subjektiven Willkür das Wort zu reden, wenn er weiter schreibt: „Der Künstler, der Mut hat, überläßt sich ganz seinen Neigungen. Und nur der sich seinen Neigungen überläßt, hat Mut, und nur, wer den Mut hat, ist Künstler. Die Literatur wird fortgeworfen, die Resultate der Erziehung abgeschüttelt, die Neigungen treten hervor, die Hemmung schafft dem Strom ein neues Bett, der eine Ton, der nur eine untergeordnete Farbe im früheren Gesamtbild war, breitet sich aus, eine neue Persönlichkeit steht da. Ein neuer Mensch! Das ist ein Beispiel für die Entwicklung des Künstlers, für die Entwicklung der Kunst“4).
Dem Künstler selbst bleibt dieses Neue verborgen, das heißt, es ist ihm als solches kaum bewusst; er steht gewissermaßen unter einem Zwang, der seine Neigungen in einer nicht zu revidierenden Weise bestimmt.
„Das Schaffen des Künstlers ist triebhaft. Das Bewußtsein hat wenig Einfluß darauf. Er hat das Gefühl, als wäre ihm diktiert, was er tut. Als täte er es nur nach dem Willen irgendeiner Macht in ihm, deren Gesetze er nicht kennt. Er ist nur der Ausführende eines ihm verborgenen Willens, des Instinkts, des Unbewußten in ihm. Ob es neu oder alt, gut oder schlecht, schön oder häßlich ist, er weiß es nicht. Er fühlt nur den Trieb, dem er gehorchen muß. Und in diesem Trieb mag Altes sich aussprechen und Neues. Solches, das von der Vergangenheit abhängt, und solches, das der Zukunft Wege weist. Alte Wahrheiten oder neue Irrtümer. Seine musikalische Natur, wie er sie von einem musikalischen Urahn geerbt oder durch die Literatur erworben hat, aber auch vielleicht der Ausfluß einer neue Wege suchenden Kraft“5).
Wenn Schönberg vom Gefühl und vom Trieb spricht, dann bedeutet das nicht, dass für ihn die Triebfeder des Schaffensvorganges in jenem Dunkelbereich unterhalb der Bewusstseinsschwelle angesiedelt ist, vielmehr versteht er unter Gefühl und Trieb jene subjektiven Impulse, die in ihrer Ausschließlichkeit und Stringenz das Subjekt zugleich hinter sich lassen.
„Ich entscheide beim Komponieren nur durch das Gefühl, durch das Formgefühl. Dieses sagt mir, was ich schreiben muß, alles andere ist ausgeschlossen. Jeder Akkord, den ich hinsetze, entspricht einem Zwang; einem Zwang meines Ausdrucksbedürfnisses, vielleicht aber auch dem Zwang einer unerbittlichen, aber unbewussten Logik in der harmonischen Konstruktion“6). Schönberg spricht in diesen zitierten Sätzen aus der Harmonielehre nicht vom bloßen Gefühl, sondern vom Formgefühl. Auch das Ausdrucksbedürfnis schränkt er ein, wenn er es dem Zwang einer unerbittlichen Logik unterwirft. Es gibt also auch für Schönberg so etwas wie einen objektiven Bereich, der die Voraussetzung bildet, um das Gefühl zum Formgefühl und das Ausdrucksbedürfnis zu verbindlicher Stringenz zu objektivieren. Dieser objektive Bereich ist für Schönberg gewissermaßen die Summe der Tradition, ist das durch die Tradition Überlieferte und zugleich Gegebene. Die Entdeckung des Neuen, die Formulierung neuartiger Ausdrucksformen beruhen für Schönberg ausschließlich auf den immanenten Möglichkeiten des musikalischen Materials, wie es durch die Tradition gegeben ist. Das Neue geht also aus dem Alten hervor; oder anders gesagt, das Alte, also die traditionelle Musik, bildet nicht nur die Basis, sondern auch die Voraussetzung zum Neuen, also zur Neuen Musik.
Hinter diesen Vorstellungen steht ein Geschichtsbewusstsein, das der Schönberg-Bewunderer Paul Bekker zu Beginn der 20er-Jahre in die folgenden Worte fasste: „So blicken wir heute zurück auf das hinter uns versinkende Reich der instrumentalen Harmonie. Wir erkennen es keineswegs mit dem Gefühl des Überwundenhabens eines Veralteten, sondern im Bewußtwerden eines Schönen, das uns nicht mehr gehört. Von ihm aus streben wir einem neuen Schönen zu, wie es Hyperions Schicksalslied kündet: ,Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn‘“7) In den Sätzen, die programmatisch bestimmt sind von der Aufbruchstimmung einer jungen Generation in der ersten Hälfte des 20. Jhs., werden Vergangenheit und Tradition nicht als überwunden und veraltet beiseite geschoben; vielmehr gilt es, sich dessen, was vergangen ist, bewusst zu sein, um einem neuen Schönen entgegenzustreben. Geschichte wird als ein ständiger Wandlungsprozess gedacht, den es zu erkennen gilt; nur aus dieser Erkenntnis kann Neues gedacht werden und entstehen. Tradition bedeutet also nicht Verharren im bereits Erreichten, sondern Wandlung und Bewegung. Das Verweilen im Pantheon bedeutender Kunst ist für Schönberg der Inbegriff unproduktiven Erstarrens. Nur die Bewegung ist produktiv, so sagt es Schönberg in seiner Harmonielehre. Bewegung aber erfordert Suchen; Suchen nach Neuem und Unerhörtem. Deshalb ist für Schönberg das Suchen wichtiger als das Finden. Hat der Komponist aber unter diesem ständigen Zwang der Bewegung und des Suchens einen neuen Klang gefunden, dann ist dieser mehr als ein akustischer Reiz oder ein technisch-kompositorisches Mittel. Er ist, wie Schönberg sagt, ein unwillkürlich gefundenes Symbol, „das den neuen Menschen ankündigt, der sich da ausspricht“8).
Für Schönberg bedeutet Suchen indessen nicht wahlloses Finden und Aufgreifen (im Sinne bloßer Experimente mit dem musikalischen Material), vielmehr ist Suchen für ihn identisch mit dem Sich-Einlassen auf das wechselvolle Spiel des historischen Wandlungsprozesses. In diesem Sich-Einlassen zeigt sich eine Traditionsverbundenheit, die das bloße Kopieren historischer Modelle hinter sich lässt; Traditionsverbundenheit zeigt sich also darin, wie ein Komponist die immanenten Tendenzen des historischen Wandlungsprozesses erkennt, aufgreift und fortführt, das heißt, wie er das durch die Tradition Gegebene im Sinne dieses Wandlungsprozesses weitertreibt und verändert. Das Neue in den Kompositionen Schönbergs wird also von dem Bewusstsein getragen, dass es mit Notwendigkeit aus dem historischen Wandlungsprozess hervorgeht. Das Neue findet seine Begründung im Zwang der Notwendigkeit; ein Zwang, der aus der Musik, ihrer Sprache, ihrem musikalischen Material hervorgeht, denn in der Musik selbst konkretisiert sich der historische Wandlungsprozess. Deshalb ist für Schönberg die Frage nach der Schönheit beziehungsweise der Ästhetik nicht nur nachgeordnet, sondern in jeder Hinsicht unwesentlich. Wenn überhaupt von Schönheit die Rede sein kann, dann zeigt sie sich für Schönheit ausschließlich in der Bewegung, im Suchen und schließlich in den musikalischen Gebilden, denen der Zwang der Notwendigkeit eingeschrieben ist. „Die Schönheit“, so sagt Schönberg, „gibt es erst von dem Moment an, in dem die Unproduktiven sie zu vermissen beginnen. Früher existiert sie nicht, denn der Künstler hat sie nicht nötig. Ihm genügt die Wahrhaftigkeit. Ihm genügt es, sich ausgedrückt zu haben. Das zu sagen, was gesagt werden mußte; nach den Gesetzen seiner Natur.“9)
Schönberg ist überzeugt, dass Musik, das heißt Kunst, immer vom unbedingten Willen zum Ausdruck bestimmt wird, dass sie aber zugleich frei sein muss von subjektiver Willkür und objektiver Berechenbarkeit im Sinne einer eindeutigen Bestimmung; diese Freiheit kann Musik nur gewinnen, wenn sie um ihre materialen Bedingungen und deren Bedeutungsimplikationen weiß. Eine solche Musik ist für Schönberg notwendig, und als solche grundsätzlich immer neu. Deshalb ist das Neue für ihn nicht an die Geschichte gebunden; alle Musik ist für ihn neu, wenn sie um diese ihre Bestimmung weiß.
(Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke, 1930)

„Was ist Neue Musik?
Offensichtlich muß das Musik sein, die, obwohl sie immer noch Musik ist, sich in allem Wesentlichen von früher komponierter Musik unterscheidet. Offensichtlich muß sie etwas ausdrücken, was bisher noch nicht in der Musik ausgedrückt worden ist. Offensichtlich ist in der höheren Kunst nur dasjenige darstellenswert, was nie zuvor dargestellt worden. Es gibt kein großes Kunstwerk, das nicht der Menschheit eine neue Botschaft vermittelt; es gibt keinen großen Künstler, der in dieser Hinsicht versagt. Das ist der Ehrenkodex aller Großen in der Kunst, und folglich werden wir in allen großen Werken der Großen jene Neuheit finden, die niemals vergeht, sei sie von Josquin des Prés, von Bach oder Haydn oder von irgendeinem anderen großen Meister.
Denn: Kunst heißt Neue Kunst.“
In diesen Sätzen von Schönberg schwingt viel Pathos mit, worüber im Blick auf Schönberg natürlich zu diskutieren wäre. Doch darum geht es hier nicht. Entscheidend ist der Anspruch des Neuen, den Schönberg als eine gültige Kategorie versteht und die er definitiv gegen alles Modische absetzt. Das Modische ist für ihn zwar ein aktuelles Ereignis, und es kann – gerade auf Grund seiner Aktualität – vielleicht zeitgemäß sein, doch den Rang des Neuen wird es nie erhalten, das Modische wird immer dem Vergessen anheimfallen.
Schönbergs utopische Vorstellung des Neuen in der Identität von subjektivem Ausdruck und historischer Notwendigkeit bestimmt bis heute die Musikszene. Natürlich sind die Begriffe nicht mehr die gleichen; man wird wohl kaum noch von subjektivem Ausdruck und historischer Notwendigkeit reden. Doch die Tendenzen haben sich, wie ich behaupten möchte, nicht geändert; als unverrückbares Ziel bleibt immer noch das Eine: nämlich das Neue. Und dieses Neue versucht auch immer noch, sich als gültig zu verstehen, das heißt als etwas, das notwendig so ist, wie es ist. Selbst musikalisch-künstlerische Zufallsgebilde, die zum Beispiel bewusst den Werkcharakter der traditionellen Musik negieren, indem sie ständig eine andere Erscheinungsform annehmen, beharren auf der Notwendigkeit ihres Tuns.
Zu Beginn der 50er-Jahre tritt eine Musik in Erscheinung, die scheinbar mit aller Tradition bricht; es ist die so genannte serielle Musik. Das ästhetisch-kompositorische Programm dieser Musik bestand darin, jegliche Art von Assoziation und Beziehung zur musikalischen Tradition grundsätzlich zu vermeiden. Man wollte tabula rasa machen.
Die Komponisten der seriellen Musik der 50er und der frühen 60er-Jahre insistieren programmatisch auf ein wertfreies, neutral musikalisches Material. Mit Hilfe serieller Manipulationen sollte das musikalische Material von allen seinen tradierten Implikationen gereinigt werden. Man hoffte, jenseits überkommener Traditionen und jenseits individuell-subjektiver Eingriffe ins Material zu einer ganz und gar objektiven und in ihrer Objektivität zugleich vollkommenen Musik zu gelangen. Mit Sicherheit ist der Gedanke einer reinen, sich selbst im Ausdruck bestimmenden Musik nicht unbeeinflusst von der Nachkriegssituation und der faschistischen Vergangenheit. Die Musik war in ihrem Bedeutungsanspruch in den Ohren der jungen Komponisten völlig verschmutzt; es galt, die Musik zu reinigen.
Das Ergebnis dieses Reinigungsprozesses, das seit zirka 1950 gleichsam eine quasi chronologische Notwendigkeit beanspruchte – man sah es zumindest so -, sollte eine völlig Neue Musik sein, eine wahrhaft „Neue Musik“.
Der Reinigungsprozess selbst war primär an der Entfaltung und logisch erklärbaren Veränderung des musikalischen Materials orientiert. Die Kompositionen waren gewissermaßen in diesen materialen Entfaltungsprozess eingebettet; sie waren Durchgangsstationen innerhalb dieses Prozesses. Jede Komposition ging von bestimmten materialen Problemstellungen aus und versuchte, zu einer widerspruchsfreien Lösung dieser Probleme zu kommen. Die Lösung selbst implizierte jedoch wiederum eine neue Problemstellung, die als solche über die Komposition hinauswies. Die q u a n t i t a t i v e Entfaltung des Materials, deren Stand die Komponisten in ihren Schriften begrifflich und theoretisch protokollierten, wurde zum Garant für das q u a l i t a t i v e Niveau einer Komposition. Dieses quasi geschichtliche Konzept, das die einzelnen Kompositionen als Durchgangsstationen eines fiktiven Prozesses begriff, erlaubte schließlich, den chronologischen Ort einer Komposition als „historisch“ notwendig und folgerichtig zu beweisen. Die Kompositionen waren somit in doppelter Weise abgesichert; einmal in ihrem Binnengefüge, zum anderen in ihrem chronologischen Stellenwert. Diese Absicherung gab dem rezipierenden Betrachter und Theoretiker einerseits Urteilskriterien an die Hand, zum anderen eröffnete sie ihm den Weg zu einer theoretischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Musik. Das „Neue“ wird mit dem so genannten Stand des Materials bewiesen.
Bereits in den 60er-Jahren wird die Brüchigkeit des skizzierten Materialkonzepts und seines Anspruchs als das notwendig und gültig Neue offenkundig. Die Komponisten, auch jene Repräsentanten der seriellen Musik wie Boulez, Stockhausen und Nono, besannen sich wieder auf Aspekte des Ausdrucks und der Kommunikation. Sprache, gesprochene und gesungene Sprache (Schnebel, Kagel) wird wieder Gegenstand kompositorischer Reflexion. Komponisten, die bisher kaum beachtet wurden, wie zum Beispiel Ives und Satie, finden seit Ende der 60er-Jahre immer mehr Interesse. Außereuropäische Musik, zum Beispiel die Musik Afrikas und Asiens, stimuliert die Gemüter. Aus Nordamerika kommen Fluxus-Bewegung und Minimal-Music. Seit den 70er-Jahren treten jüngere Komponistinnen und Komponisten in Erscheinung, die sich kaum noch für das Neue der 50er- und 60er-Jahre interessieren, sondern die ihren Blick in die frühe Moderne um 1910 (und schließlich ins 19. Jahrhundert) zurückwenden.
Seit den späten 70er-Jahren ist das mitteleuropäische Musikleben mit einem musikalischen Pluralismus konfrontiert, wie er komplexer und undurchschaubarer kaum gedacht werden kann. Hinzu kommt noch jene sich ständig reproduzierende Gegenwart vergangener Musik, jener zweite Pluralismus, der den ersten nicht nur prozentual überlagert, sondern auch vielfältig durchdringt. Allgemein verbindliche Orientierungspunkte sind in dieser auf den verschiedensten Ebenen sich realisierenden Gegenwart nicht auszumachen. Spätestens seit den frühen 70er-Jahren hat sich die Objektivität von Urteilskriterien für das Neue als bloßer Schein entlarvt.
Als entscheidende Tendenz des Komponierens und der theoretischen Reflexion dürfte spätestens seit der Mitte der 70er-Jahre die radikale Abkehr vom Materialbereich der Komposition gelten. Nicht mehr das Material (das heißt sein jeweiliger Stand, wie man in den 50er-Jahren sagte) bestimmt das Komponieren und die Komposition, vielmehr definiert umgekehrt die Komposition in ihrem Anspruch auf Unmittelbarkeit des musikalischen Ausdrucks das musikalische Material. Das bedeutet, dass das musikalische Material, das in den 50er- und frühen 60er-Jahren Gegenstand des kompositorischen Fortschritts des Neuen war, dem musikalischen Vermittlungsprozess untergeordnet wird. Diese Abkehr hat gleichsam automatisch zur Folge, dass sich die Kompositionen und das Komponieren nicht nur einer geschichtlichen, sondern auch einer quasi-geschichtlichen Einordnung verweigern. Die Kompositionen stehen zwar, was von keinem Komponisten abgestritten wird, in einer bestimmten geschichtlich-gesellschaftlich definierten Wirklichkeit, doch die Kompositionen und ihr Anspruch als „Neue Musik“ finden ihre Begründung nicht in Relation zur materialen Problemstellung anderer Kompositionen, sondern ausschließlich in den je eigenen Ausdrucksformen. Das ist mit Sicherheit einer der Gründe, warum dem allgemeinen Bewusstsein das Spektrum der Kompositionen so breit gefächert und damit so widersprüchlich erscheint. Dieses Spektrum will sich in seiner pluralistischen Vielfalt dem ordnenden Denken nicht fügen. Während in den 50er- und frühen 60er-Jahren sich der Hörer und der theoretisierende Rezipient auf Kriterien verlassen konnte – er glaubte es zumindest -, deren metawissenschaftliche Sprache ihm das Neue, die Richtigkeit und die Logik nicht nur einer Komposition, sondern einer ganzen musikalischen Richtung beweisen konnte, so ist er nun wiederum auf eine persönliche und vor allem hörende Auseinandersetzung mit der Musik angewiesen. Weder das musikalische Material und die kompositorischen Operationen noch der instrumentale Apparat mit seinen vielfältigen Techniken bieten dem Außenstehenden, das heißt dem Hörer, Kriterien für den Sinn und das Besondere einer Komposition. Der Hörer und der Theoretiker, dem sowohl die begriffliche als auch die theoretische und schließlich auch die ästhetische Rückendeckung fehlen, die ihm die Musik der Nachkriegszeit in ihren theoretischen Kommentaren geboten hatte. Beide stehen gewissermaßen mit leeren Händen da; beide müssen schließlich die bittere Erfahrung machen, dass sie vielleicht immer mit leeren Händen dagestanden haben. Das „Neue“ ist also wohl nicht beweisbar. Doch was ist das: das Neue?
Ich habe in meinen Ausführungen versucht, rückblickend einige Erscheinungsformen des Neuen zu skizzieren. Sei es die „Nuove Musiche“ des frühen 17. Jahrhunderts oder die musikalische Aufklärung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sei es die Neue Musik um Schönberg oder schließlich die serielle Musik nach dem Zweiten Weltkrieg, all diese unterschiedlichen Erscheinungsformen weisen gewisse Gemeinsamkeiten auf. Zum einen wird der Anspruch des Neuen getragen von einem neuartigen Ausdruckswillen, der durchweg einhergeht mit einer gesellschaftlich kritischen Haltung, zum anderen findet er seinen Niederschlag in einer grundlegenden Veränderung und zugleich Erneuerung des musikalischen Materials. Das Material selbst gestaltet und strukturiert sich neu. Wir können, um mit Schönberg zu sprechen, die Notwendigkeit und damit den Sinn des Neuen erkennen.
Was uns in der Bestimmung des Neuen im Rückblick scheinbar leicht fiel, will uns im Blick auf unsere Gegenwart nur schwer gelingen. Wir sind heute mit einem Pluralismus konfrontiert, der alles, was denk- und machbar ist, scheinbar auch realisiert, denn alles scheint ja akzeptiert zu werden; auch diese leidvolle Erfahrung machen wir ständig. Wir könnten uns nun, nachdem wir die Medien, den Kunstmarkt, die gesellschaftlichen Interessen etc. kritisch analysiert und kräftig beweint hätten – was ich mir erspare -, auf den Standpunkt zurückziehen, dass dieser Pluralismus sich einerseits in einmaligen Ereignissen erschöpft, dass er aber wie die Hydra-Schlange ständig und unerwartet Ereignisse hervorbringt. Doch so einfach lässt sich dieser gegenwärtige Pluralismus nicht abtun. Trotz Zufall, „anything goes“, „après nous le déluge“, wie immer man diese Anhäufung von Heterogenem und Inkommensurablem auch bezeichnen mag, so zeigen sich doch in allen diesen musikalisch-künstlerischen Erscheinungsformen der Wunsch und die Hoffnung, dass Musik mehr ist als eine bloße Anhäufung von Frequenzen.
Sofern es zutrifft, dass die Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Geschichtsepoche, die das Etikett „Moderne“ bekommen hat, zu begreifen war, dann wäre das bereits um die Jahrhundertmitte im Kontext eines Geschichtskonstrukts sich abzeichnende Ende der Geschichte in der Tat das Ende der Moderne. Doch das Ende der Geschichte bedeutet nicht, wie unsere Gegenwart deutlich macht, das Ende der Kunst. Vielleicht wird man einmal die Vielfalt der gegenwärtigen musikalischen Erscheinungsformen unter der Bezeichnung „postmodern“ subsumieren; wenn man es recht bedenkt, dann ist es eigentlich gleichgültig, ob es zu dieser Etikettierung kommt. Eines lässt sich indessen bereits heute erahnen, nämlich dass sich in der Vielfalt der gegenwärtigen musikalischen Erscheinungsformen nicht nur ein Bedürfnis nach musikalischen Ausdrucksformen artikuliert, sondern dass in dieser Vielfalt eine tiefe Sehnsucht nach spirituellen und menschlich-emotionalen Existenzformen verborgen ist, von denen wir noch nichts wissen.
Anton Webern hat in seiner 1933 gehaltenen Vorlesung über Neue Musik gesagt: „Neue Musik ist jene, die nie gesagt wurde. – Dann wäre Neue Musik ebenso das, was vor tausend Jahren war, wie das, was jetzt ist, nämlich: solche Musik, die als eine noch nie gesagte erscheint."
Solange wir offen sind für das noch nie Gesagte, offen für das, was wir noch nicht wissen, solange wir, wie Th. W. Adorno in einem seiner letzten Aufsätze geschrieben hat, bereit sind, Dinge zu tun, von denen wir nicht wissen, was sie sind, solange wir uns diese Offenheit erhalten, brauchen wir uns um das Neue nicht zu sorgen. Gleichwohl wird das Neue als das noch nie Gesagte sich gegenüber dieser Offenheit als das bewähren müssen, was es beansprucht zu sein, nämlich: ein Neues.


1) Vgl. H. Eisler, Fragen Sie mehr über Brecht – Gespräche mit H. Bunge, Darmstadt 1986, S. 63.
2) Zitiert nach: A. Webern, Schönbergs Musik, in: Arnold Schönberg, München 1912, S. 40.
3) A. Schönberg, Harmonielehre, Wien, 3. Auflage 1921, S. 479.
4) A. Schönberg, a. a. O., S. 480.
5) A. Schönberg, a. a. O., S. 500.
6) A. Schönberg, a. a. O., S. 502.
7) P. Bekker, Musikgeschichte als Geschichte der musikalischen Formwandlungen, Stuttgart 1926, S. 234.
8) A. Schönberg, a. a. O., S. 479.
9) A. Schönberg, a. a. O., o. S.


© Elmar Budde 2002

 
   

 

 

 
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