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Der tanzende Gott
Pravu
Mazumdar
I. Einleitung
Wenn der Gott tanzt, bebt die Erde. Über
ihm: das unendliche Blau, Heimat der Götter,
dessen innere Nacht sich mit dem Blau seines Halses
vermischt. Unter ihm: die verkrustete Erde, die
gerade eben im Takt seiner ratternden Doppeltrommel
aufbricht, um ihre Lavaströme gegen den Himmel
zu schleudern. Um seinen blauen Hals ringelt sich
die Schlange, die ihm einst aus einem Opferfeuer
entgegen sprang und die er leise ausstrich, um
sie sich um den Hals zu legen. In seinen aufgetürmten
Locken steckt die Mondsichel wie eine Haarspange,
und im Labyrinth dieser Locken wird der himmlische
Ganges aufgefangen und zärtlich auf die Erde
gelenkt, so dass seine Wassermassen die Welt der
Menschen nicht überfluten und dennoch die
Seelen der 60.000 Söhne des Sonnenkönigs
Sagara zu sühnen vermögen, die ihren
Übermut mit dem Tod verbüßten
und seitdem der Erlösung harrten. Wenn der
nach Dhaturablumen duftende Gott; wenn der Gott,
dessen Körper mit Asche beschmiert ist, nach
der Art der Vagabunden-Yogis; wenn dieser Gott,
den man den Herrn der Tiere nennt, aber auch den
Herrn des Yoga, dessen Stellungen bekanntlich
der Tierwelt entnommen sind; wenn der Gott, der
den Stier reitet, und dessen männliche Zeugungskraft
bezwingt; wenn also dieser Gott tanzt, öffnet
sich die Grenze zwischen Himmel und Erde und reißt
die Ordnung der Welt ein. Nicht durch Waffengewalt
vernichtet der Gott die Welt, nicht durch eine
einzige souveräne Geste der Zurücknahme,
sondern durch das rhythmische Stampfen seiner
Füße, deren Taktschlag eine Katastrophe
zu skandieren scheint: die immer wiederkehrende
Katastrophe der Begattung von Himmel und Erde.
Jeder
Augenblick der Kreativität trägt in
sich den Charakter einer solchen Katastrophe.
Der Anker ist gelichtet. Hinter uns schwindet
die alte Erde der Gewohnheiten, vor uns erstreckt
sich ein Meer und ein Himmel des Neuen. Die alten
Ordnungen, in denen sich das Leben lange einrichtete,
sind zusammengebrochen, die Rangordnung zwischen
oben und unten, zwischen unserem Guten und unserem
Bösen, sind fortan ohne Gültigkeit.
Ebenso wie der Tod stellt der Augenblick der Kreativität
einen Sprung in der Zeit des Alltags und der Gewohnheiten
dar.
II. Vater Himmel, Mutter Erde
Für
die älteste vorgeschichtliche Menschheit
ist der Sprung in der Zeit des Alltags kein einmaliges
Ereignis, sondern eine regelmäßig wiederkehrende
Erfahrung. Sie kehrt immer am Ende bzw. Anfang
des herrschenden Zeitabschnitts, sei dies das
Sonnenjahr, sei dies der vom Mond bestimmte Monatszyklus.
An der Stelle der Geschichte mit ihren Einmaligkeiten
und Irreversibilitäten regiert der Kosmos.
Unter den Füßen ruht die Erde, oben
wölbt sich der Himmel, und auf beide ist
letztgültiger Verlaß. Denn in fast
allen mythischen Systemen gilt die Erde als Mutter
und weibliches Prinzip, als das große ruhende
Wesen unter den Füßen, das die Menschen
nährt und in ihrem Säuglingsegoismus
geduldig trägt. Der Himmel dagegen gilt als
Vater und männliches Prinzip. In diesem gewaltigen
kosmischen Raum suchen und finden die Menschen
Schutz vor den vielen Zufällen und Unwägbarkeiten,
denen ihr Leben ausgesetzt ist.
Alles
in dieser archaischen Welt ist Wiederholung. Tag
und Nacht wechseln sich rhythmisch ab, ebenso
die Jahreszeiten. Das Alter wiederholt die Kindheit
und der Tod die Geburt. Doch handelt es sich keineswegs
um eine wahllose Wiederholung ohne Sinn, sondern
um die Wiederholung eines mustergültigen
Ursprungs im allgemeinen und eines anfänglichen
schöpferischen Aktes im besonderen. "Die
Vergangenheit ist die Präfiguration der Zukunft.
Kein Ereignis ist unumstößlich, und
keine Verwandlung ist endgültig. In einem
gewissen Sinne kann man sogar sagen, es geschehe
nichts Neues in der Welt, denn alles ist ja nur
die Wiederholung derselben primordialen Archetypen."
Auch
die Erde wiederholt den Himmel. Verschiedene irdische
Einrichtungen der Menschen sind Wiederholungen
himmlischer Bilder. Die Landschaft mit ihren Bergen,
Flüssen, Ebenen ist das Abbild eines himmlischen
Musters. Die Städte sind nach Sternkonstellationen
erbaut, und der Tempel ist die Realisierung eines
himmlischen Planes. Somit erscheint der Himmel
als eine umfassende Quelle der Formen und Urbilder.
Nach einer altiranischen Auffassung ist die gesamte
erscheinende Wirklichkeit in sich gedoppelt. Alles
irdische und Stoffliche hat seine formale Entsprechung
im Himmel. Anders gesprochen: alles Wirkliche
hat eine doppelte Quelle: die Erde als Stoffquelle,
die als mütterliches Prinzip der Nähe
und Unmittelbarkeit die Dinge mit ihrer Stofflichkeit
säugt; und der Himmel als eine Ansammlung
von Urbildern, die über sichtbare Fernen,
auf den Wegen des Lichts und der Spiegelungen,
sich den Dingen als ihr inneres Gesetz aufprägen.
Auch in späteren philosophischen Entwürfen
kann man Elemente dieses archaischen Wiederholungsdenkens
entdecken, bis hin zu Kant, bei dem sich die Höhe
des Himmels in die Tiefe eines endlichen Subjekts
verkehrt und zum transzendentalen Formenbestand
wird, von dem aus die Erkenntnis gestiftet und
geprägt wird.
Die
Erde träumt also ihren Gatten, den Himmel,
und gebiert in ihrem Schoß dessen Formen,
d.h. alle die Formen, von denen die menschliche
Zivilisation bevölkert ist und die die Menschen
dem Himmel entnommen haben. Zu den Bedingungen
dieses Träumens gehört aber die Trennung
zwischen Erde und Himmel, die erst den kosmischen
Raum des menschlichen Daseins abgibt. Vor dem
Hintergrund dieser Trennung erscheint der Traum
der Erde mit seinen leuchtenden himmlischen Formen
als eine nachträgliche Zurücknahme der
Distanz, als eine symbolische Überbrückung
zwischen Himmel und Erde und als ein notwendiger
Ausgleich ihrer Trennung. Denn in diesen sehnsüchtigen
Träumen der Erde, d.h. in allen menschlichen
Akten des Bildens und Bauens schwingt der primordiale
Schöpfungszustand mit: das orgiastische Chaos
der uranfänglichen Begattung von Mutter Erde
und Vater Himmel. Der Hunger nach Sein und Erneuerung
übersetzt sich in die Sehnsucht nach dem
ursprünglichen Chaos. In den Träumen
der Erde und den schöpferischen Akten der
Menschen wiegt sich das große Loch am Anfang
und Ende der Zeiten. In vielen alten Kulturen,
vornehmlichen der indischen, beginnt der Bau,
sei es einer Stadt, eines Tempels, oder nur eines
Privathauses, mit einem kosmogonischen Akt: "Bevor
(in Indien) auch nur ein Stein gelegt wird ...
bezeichnet der Astrologe den Punkt zur Grundsteinlegung,
der sich über der die Welt tragenden Schlange
befindet. Der Maurermeister schneidet aus einem
khadira-Baum einen Pfahl und rammt ihn mit Hilfe
einer Kokosnuß in den Boden, genau an dem
bezeichneten Punkt, damit der Kopf der Schlange
gut festgehalten wird." Nach einem altindischen
Mythos besteht der ursprüngliche und mustergebende
Akt der Schöpfung darin, daß der Götterkönig
Indra der Schlange des Chaos den Kopf mit dem
Blitz trifft und abschneidet. Dieser Akt wird
am Anfang jeder Bautätigkeit rituell wiederholt.
Daß
in den Träumen der Erde - sowie der Arbeit
der himmlischen Bilder in irdischen Belangen -
das große orgiastische Loch am Anfang und
Ende der Zeiten konstitutiv wirksam ist, ist auch
ein archaischer Gedanke, der sich bis ins zwanzigste
Jahrhundert hinein verlängert. Aber auch
dieser Gedanke muß erst vom Kosmischen ins
Subjektive verlagert und verkehrt werden, um von
uns überhaupt gedacht werden zu können.
Es handelt sich jetzt um die vom Kosmischen losgelösten
Träume der Menschen. Die Geburts- und Todesträume
spielen bei Freud und Jung eine wesentliche Rolle,
bei Ludwig Biswanger erscheinen sie als die Wesensgestalt
des Traumes selbst. Binswanger isoliert die Bewegung
des Steigens und Fallens, die in solchen Träumen
vorkommt, und identifiziert die vertikale Achse
dieser Bewegung als die wesentliche des Traumraumes.
Der Traum, der im archaischen Denken zwischen
Mutter Erde und Vater Himmel während ihrer
Trennung vermittelt, hat seinen Ursprung in der
vertikalen Achse zwischen beiden. Diese Achse
seines eigenen Ursprungs hält der Traum fest,
indem er sie mit Vorliebe in seinem eigenen Inhalt
wiederholt, als eine Erinnerung an die uranfängliche
Umarmung von Mutter Erde und Vater Himmel. Er
wiederholt diese Achse als die tragische Achse
des menschlichen Daseins überhaupt: zwischen
einem himmlischen Olymp der hybris und der erdhaften
Unterwelt des Todes. Auch in dieser jüngsten
Konzeption trägt also der Traum das archaische
Mal der Wiederholung an sich.
Aber
nicht nur der Traum ergibt sich aus der Trennung
zwischen Mutter Erde und Vater Himmel, sondern,
auf einer grundlegenderen Ebene, überhaupt
die Trennung zwischen Vergangenheit und Zukunft,
das heißt: die lineare Zeit. Der Raum der
Trennung zwischen Mutter Erde und Vater Himmel,
der auch den Raum des menschlichen Daseins abgibt,
trägt in sich die Bedingung für seine
eigene Überwindung. Denn aus ihm geht einerseits
der Traum hervor, der mit seinen himmlischen Bildern
die Distanz zwischen Himmel und Erde symbolische
überwindet. Andererseits geht aus dem archaischen
Trennungsraum zwischen Vater Himmel und Mutter
Erde die lineare und historischen Zeit hervor,
die zwischen den Polen der Vergangenheit und der
Zukunft auftaucht und, gemäß der linearen
Fortschrittslogik eines historisch-biographischen
Werdens, die Distanz zwischen den Zuständen
einer irdischen Vergangenheit aus Fall und Leid
und einer himmlischen Zukunft in utopischer Erlösung
überwindet.
Im
Schoß der Welt keimt der Mensch, in den
Kreisläufen der kosmischen Zeit keimt immer
wieder die lineare Zeit. Diese spannt sich zwischen
der Erde des Vergangenen und dem offenem Himmel
des Kommenden auf.
Damit
steht das archaische Denken in einem gewissen
Gegensatz zum christlichen. Im christlichen Denken
wird das Nichts vorausgesetzt, als eine Tragödie
der Schöpfung, die heilsgeschichtliche zu
überwinden ist. Die Schöpfung selbst
ist das Füllen dieses Nichts, und die absolute
Erfüllung ist das Ins-Volle-Gekommen-Sein,
das Vollkommene des Seins und die Vollkommenheit
Gottes. Die Schöpfung bedarf der heilsgeschichtlichen
Ergänzung und beide zusammen ergeben die
lineare Achse der Zeit, die vom Nichts ins Sein
führt. Im archaischen Denken hingegen, das
den Hintergrund des altindischen Shiva-Mythos
bildet, ist das Nichts keine Gegebenheit, schon
gar nicht etwas Tragisches, vielmehr muss es,
als das Erste und Bewegende im Kosmos immer wieder
hergestellt werden. Die Schöpfung aus dem
Nichts geschieht nicht voraussetzungslos. Sie
setzt die periodische Schaffung des Nichts voraus.
Im archaischen und kosmischen Sinne wird die Destruktivität
gut geheißen: als eine Vorbereitung der
Schöpfung, als das Schaffen des Raumes, der
dann mit dem Neuen zu füllen ist.
Wenn
der Gott tanzt, zerspringt nicht nur die Erde,
sondern auch die lineare Zeit. Die Kruste der
Gewohnheiten bricht auf: das Gewohnte ist nicht
mehr bewohnbar. Die Vergangenheit löst sich
von der Zukunft: der Augenblick explodiert. Die
kosmische Situation ist reif für eine Neuschöpfung.
III.
Der rasende Gott
In
der Welt der griechischen Tragödie lockt
der Gott Dionysos den Helden zuerst in die Höhe.
Das tut er vermittels einer vertikalen Bewegung,
die das tragische Geschehen überhaupt strukturiert.
Angetrieben von einem dionysischen Wahnsinn, erhebt
sich der Held bis zur Gottgleichheit, um sogleich
niedergeschmettert zu werden, wie Patroklos, der
Freund von Achilles im homerischen Bericht, so
dass er schwankt und stürzt, und schließlich
von der Erde und der Unterwelt wieder aufgesogen
wird.
In
der indischen Auffassung werden die Kräfte
der Auflösung anders organisiert. Himmel
und Erde kommunizieren hier auch im Element einer
Vertikalität. Doch handelt es sich hier nicht
um die Vertikalität des tragischen Dramas,
sondern um diejenige des menschlichen Körpers,
der sich zwischen Himmel und Erde aufrichtet und
wie ein Zeigefinger von der Erde auf den Himmel
weist. Der Kosmos ist weder der Himmel noch die
Erde. Er ist das leere Zwischen beider, er ist
die Mitte dieses Zwischens, die Mitte der Mitte
im menschlichen Nabel, der zwischen den Kräften
des Himmels und der Erde vermittelt, in dem beide
zusammenfließen, und der somit zur Quelle
von Kraft und Tanz, von der Kraft des Tanzes wird.
Somit
zwingt der Tanz die zwei archaischen Extreme des
Adlers und der Schlange zusammen. Als ein Spiel
des Gewichts des menschlichen Körpers umspielt
er die Grenze zwischen Himmel und Erde. Der Tänzer
fliegt nicht, er sinkt nicht zu Boden, er macht
die Mitte zwischen beiden Möglichkeiten sichtbar,
der Möglichkeit des hochfliegenden Übermuts
und derjenigen der dumpfen erdhaften Mutlosigkeit.
Er macht die Mitte zwischen diesen Extremen sichtbar
anhand einer fliegenden Bewegung, die nie den
Kontakt mit der Erde verliert. Bezeichnenderweise
ist auch in der griechischen Kultur der Gott des
Rausches zugleich der Gott des dithyrambischen
Tanzes.
Nach
einer alten Überlieferung ruht auf den Schultern
des tanzenden Gottes der Leichnam seiner heiß
geliebten Gattin Sati. Sati, wörtlich die
Seiende, ist die Tochter des Königs Daksha,
der einer der vielen Söhne des Schöpfergottes
Brahma ist. Als Daksha ein großes Opferfest
feierte, wurden Sati und ihr Gatte Shiva ausgeschlossen.
Shiva, der halbnackte Gott des Rauschgifts, der
sich vornehmlich an den Leichenverbrennungsstätten
aufhält und auf einem Stier reitet, und dem
eine Schar der niedrigsten Gespenster folgt, dieser
höchste Gott, der das Leben eines Bettlers
führt, schien dem Schwiegervater Daksha nicht
in die erlesene Gesellschaft auf dem Opferfest
zu passen. Als Sati davon erfuhr, ging sie uneingeladen
auf das Fest ihres Vaters und musste zusehen,
wie sich dort die versammelte Schar der Könige
und Götter in Schmähungen gegen Shiva
ergingen. Bis in ihr Innerstes beleidigt, fiel
Sati zu Boden und starb. Als Shiva von Satis Tod
erfuhr, traf er als der große Rächer
ein. Nach einer Überlieferung, die Shiva
als den rasenden Gott darstellt, richtete dieser
ein Blutbad an: er schlug dem König Daksha
den Kopf ab, rammte einem anderen mit seinem Knie
die Brust ein, dem Sonnengott, der in einem Hohnlächeln
die Zähne gebleckt hatte, schlug er eben
diese Zähne heraus. Später erfasste
ihn Mitleid und er gewährte Daksha wieder
einen Kopf, allerdings einen Ziegenkopf.
Nach
einer anderen Überlieferung nahm Shiva den
Leichnam von Sati auf die Schulter. Seine heißen
Tränen versengten die Erde und er begann
zu tanzen. Die Erde bebte, die Götter fürchteten
um ihr Dasein, das Ende der Welt schien nah. In
dieser Lage ersuchten die Götter den Welterhalter
Vishnu, etwas zu unternehmen, um den bevorstehenden
Weltuntergang zu verhindern. Vishnu näherte
sich mit seiner drehenden Scheibe Shiva von hinten
und zerstückelte den Leichnam Satis. Überall,
wo die Stücke des heiligen Leibes der Weltenmutter
fielen, entstanden Pilgerstätten. Als Shivas
Schultern leichter wurden, beruhigte sich sein
Weltvernichtungstanz. Schließlich wurde
er ganz still und zog sich auf den Berg Kailash
zurück, um sich dort in eine lange und tiefe
Meditation zu versenken, bis Sati wieder auf die
Welt kam, um ihn daraus zu wecken.
Nach
dieser Überlieferung geht Shivas Tanz aus
dem Tod seiner Liebe hervor. Der Mythos scheint
zu sagen, eine Welt ohne Liebe gehört vernichtet,
denn sie ist bereits vernichtet und dauert nur
noch dem Schein nach fort. Man muss in der Bewegung
des Tanzes eine solche Welt auch nach außen
hin vernichten, um Raum zu schaffen für eine
Welt, in der die Liebe wieder regieren kann.
Vor
diesem Hintergrund der Trauer um die tote Liebe
ist es einleuchtend, dass Shivas Tanz ein strenger,
einsamer Tanz ist. Alle Farbenpracht, alle Geräusche
und Frühlingsdüfte des Daseins sind
zurückgenommen, bis einige wenige strenge
Elemente übrig bleiben: der Himmel, die Erde,
dazwischen die aufrechte und tanzende menschliche
Form, in der sich Himmel und Erde gegenseitig
auslsoten und sich im Spiel des Gewichts fühlbar
machen. Übrig bleibt, als Resultante des
Spiels des Gewichts und des Kräfteaustausches
zwischen Himmel und Erde die Sthana oder die Haltung,
die als Ausgangspunkt der Bewegung und des Tanzes
dient. Übrig bleibt die Doppeltrommel, mit
der Shiva den ewigen Takt des Weltuntergangs schlägt,
der Duft der Dhaturablumen, die Asche seiner Haut,
das blaue Gift in seinem Hals, die Schlange um
seinen Hals. Shiva nimmt alles zurück, bis
die Mitte sichtbar wird, um die herum diese Elemente
geordnet werden. Die Weltvernichtung bedeutet
nicht bloß, dass der Himmel einstürzt
und mit der Erde verschmilzt, sondern bedeutet
die Vermischung von Himmel und Erde in der drehenden,
schleudernden und schließlich rasenden Bewegung
des Tanzes.
Es
liegt durchaus in diesem Zusammenhang des rasenden
Gottes, dass die historische Vorform Shivas der
vedische Gott Rudra ist. Etymologisch bedeutet
Rudra unter anderem der Heulende (rud) oder der
Rotleuchtende (rad) oder Himmel-und-Erde (rodasi).
In seiner ältesten Form gilt Rudra als gewalttätig
und zerstörerisch. Die Veden beschreiben
ihn als ein wildes Tier, als der schnelle, rote
Eber des Himmels, der Kuh- und Menschentöter,
der Herr des Tieropfers mit den schnellen Pfeilen
und dem starken Bogen. Manchmal wird er mit dem
Feuergott identifiziert, dessen Ort der Himmel
ist, wo er als die Sonne weilt, oder die Luft,
die er mit seinen Blitzen bevölkert, oder
die Erde, in der er als das den Menschen vertraute
Feuer lodert. Er ist die Ursache des Knisterns
des Feuers und der ungezügelten Wut der brüllenden
Stürme, die Himmel und Erde einreißen.
Rudra ist ursprünglich der Wettergott, der
alle schrecklichen Naturkatastrophen verursacht,
der Gott, der den Menschen im Medium der Angst
begegnet und sie mit der Möglichkeit ihres
Nichtseins konfrontiert. Aus dem kleinen bösen
Wettergott wird im Verlauf der Jahrhunderte der
Herr des Vergessens und der Weltvernichter Shiva.
Aber
Rudra hat auch seine lichten Seiten. Er ist von
großer physischer Schönheit. Er hat
einen schönen Mund, er ist leuchtend und
trägt goldenen Schmuck, er ist der Weise,
der Herr des Gesangs, der Hüter und Besitzer
der Heilmittel, er ist überhaupt der Arzt
der Ärzte. Rudras Schönheit kann aber
blitzschnell in Schrecken umwandeln. Auch Shiva
in seiner Güte und seinem Großmut birgt
in sich die Energie des Weltuntergangs. Man könnte
in dieser Ambivalenz der Charaktereigenschaften
von Shiva-Rudra den Schattenriss einer paradoxen
Ästhetik sehen, ähnlich der in Rilkes
Formulierung, nach der das Schöne des Schrecklichen
Anfang sei.
Es
ist diese Ambivalenz, die es ermöglicht,
dass die Wutausbrüche Rudras in die höchste
Ordnung von Shivas Tanz übergeht. Am Ende
seines Werdens wird Rudra, der Heulende, zum Nataraj,
dem König des Tanzes.
IV. Stolpernd in den Tanz und tanzend in das Chaos
Dieser
Übergang deutet auf eine Bewegung der Verallgemeinerung
hin. Der Zorn Rudras ist nur einer der möglichen
Zustände, die in Bewegung und Tanz ausgedrückt
werden können. In der altindischen Ästhetik
gibt es jedoch neun solcher Zustände, die
in Tanz, Dichtung, Skulptur usw. ausgedrückt
werden.
Ein
anderer Zustand, der in verschiedenen ästhetischen
Traditionen des zwanzigsten Jahrhunderts hervorgehoben
wird, ist die Überraschung. Von den Russischen
Formalisten beispielsweise wird ein Kunstwerk
als eine Vorrichtung der Überraschung angesehen.
Gemäß dieser ihrer formalistischen
Definition soll das Kunstwerk bewirken, dass die
alltägliche Wahrnehmung, die eine schlafende
oder automatisierte Wahrnehmung ist, ins Stolpern
kommen und aufwachen. Das beinhaltet, dass das
Kunstwerk, jedes Kunstwerk, aus einem grundlegenden
Verfahren der Verfremdung hervorgeht. Dazu sagt
Viktor Sklowski: "So geht das Leben dahin,
wird zum Nichts. Die Automatisiation verschlingt
alles, die Dinge, de Kleider, die Möbel,
die Frau und die Angst vor dem Krieg. ... Um für
uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen,
die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen,
gibt es das, was wir Kunst nennen. Das Ziel der
Kunst ist, uns ein Empfinden für das Ding
zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur
Wiedererkennen ist. Dabei benutzt die Kunst zwei
Kunstgriffe: die Verfremdung der Dinge und die
Verkomplizierung der Form, um die Wahrnehmung
zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern.
Denn in der Kunst ist der Wahrnehmungsprozess
ein Ziel in sich und muß verlängert
werden." Auch dieser Zustand der Überraschung
figuriert in der altindischen Ästhetik, aber
als einer unter neun weiteren.
Eine
allgemeinere Konzeption beinhaltet Nietzsches
Kennzeichung der Ästhetik als angewandte
Physiologie. Nach dieser Auffassung gilt Ästhetik
als eine Praxis, die sich nicht allein mit Form
beschäftigt, auch nicht mit dem bloßen
Inhalt - beide bilden eine recht fragwürdige
Alternative - sondern mit dem Ausdruck. Ferner
wird hier Ästhetik nicht als eine Wissenschaft
des Ausdrucks verstanden, sondern als ein Handwerk
des Ausdrucks, ein reflektiertes Handwerk oder
eben "Kunst" im Sinne des alten lateinischen
Wortes "ars". Ausdruck aber besagt eine
Beziehung zwischen einem Gefühl und einer
Bewegung des Körpers. Ästhetik in diesem
Nietzscheanischen Sinne ist also eine Kunst oder
ein Handwerk der Herstellung einer Beziehung zwischen
einem Gefühl und einer Bewegung, zwischen
dem Unsichtbaren eines Gefühls und dem Sichtbaren
einer Bewegung.
Das
Gefühl der Freude ist an sich unsichtbar.
Die Bewegung des Lächelns ist an sich sichtbar
und in der Physiologie sowie der Motorik des menschlichen
Körpers verwurzelt. Es gibt also das Gefühl
auf der einen Seite und der ausdrückenden
Bewegung auf der anderen. Das Gefühl befindet
sich aber nicht auf einer gänzlichen anderen
Ebene, in der Weise einer metaphysischen Wesenheit,
die vom Ausdruck angezeigt wird. Das Gefühl
ist eher eine komplexe Fortsetzung der Bewegung
des Ausdrucks auf einer feineren Ebene. Jede Bewegung
ist also fortsetzbar in ein Gefühl, das heißt:
jede Bewegung hat eine expressive Wirkung. Das
Lächeln des anderen erzeugt bei mir eventuell
eine Empfindung der Freude. Aber umgekehrt setzt
sich auch jedes Gefühl als Bewegung fort.
Das vom Lächeln des anderen erzeugte Freudegefühl
in mir setzt sich seinerseits als ein Lächeln
fort. Insgesamt also gebärt ein Lächeln
ein anderes.
In
diesem Sinne ist Ästhetik angewandte Physiologie:
es gibt keinen Ausdruck, der nicht durch den Körper
geht.
Diese
Wechselbeziehung zwischen dem Gefühlsinhalt
und der expressiven Bewegung im Element der Fortsetzbarkeit
ist von großer Bedeutung in der altindischen
Ästhetik. Der technische Ausdruck für
Gefühl ist Rasa, verstanden nicht als flüchtiger
alltäglicher und subjektiver Gefühlszustand,
sondern als ein ontologisch-ästhetischer
Zustand, den die Bewegung und Gestik des Tanzes
oder die Elemente einer anderen Kunst hervorrufen
will. Erwähnt wurden bis jetzt drei Rasas:
der Zorn Rudras, die Überraschung als Verfremdung,
und die durch das Lächeln erzeugte Freude.
Das sind bereits drei Rasas: Raudra oder der Zorn,
adbhuta oder die Überraschung, hasya oder
das Lachen. Es gibt sechs weitere Rasas: vira
oder Heldenmut, vibhatsa oder das Abstoßende,
bhayanaka oder das Furchtbare, karuna oder Mitleid,
santa oder die Ruhe und zuletzt srngara oder das
Erotische. Jede Geste des Tanzes jeder Ton in
der Musik, jede Tonkonstellation oder Raga ist
von Natur aus auf einen dieser Rasas abgestimmt.
"Von Natur aus", das heißt, das
die Wirkung eines tones oder einer Tonkonstellation
letztlich unabhängig ist, von der Qualität
und der Eigenart der Ausführung. Die Grundelemente
der Künste vermögen es von ihrer baren
physis her, das Herz mit einem Rasa zu überziehen.
Alle
neun Rasas aber verweisen auf den gleichen Zustand
der absoluten Seligkeit, der das Ziel aller altindischen
Erlösungslehren ist. Sie stellen eine neunfache
Verbindung zwischen Himmel und Erde dar und verweisen
auf den gleichen absoluten Zustand der Ekstase
und der Auflösung. Die Architektur der Leere
zwischen Himmel und Erde ist neunfach dimensioniert.
Der Tanz fasst die Rasas als Gefühlsansätze
und verlängert sie, um sie mit der schöpferischen
Auflösung und dem Tod zu verbinden. Denn
jedes Gefühl trägt in sich das Potential
der Auflösung. Jedes Gefühl ist potentiell
steigerbar, das heißt intensivierbar. Jede
Intensität kann gesteigert werden bis zur
Schwelle der Zerstörung. Die Steigerung eines
Tons kann das Trommelfell sprengen, die Steigerung
der Lichtintensität kann die Netzhaut verbrennen,
die Steigerung jedes Gefühl kann letztlich
zu einer Explosion der fühlenden Subjektivität
führen. Alle Gefühle bergen in sich
eine Dämmerung der Subjektivität des
Fühlenden, in jedem Gefühl und dessen
Potential steckt der große Weltzerstörer
Shiva, Shiva der König des Tanzes, der uns
über die höchste Ordnung des Tanzes
in die Unordnung der Auflösung führt
und damit die Bedingung einer erneuten Schöpfung
schafft. Die neun Rasas sind in diesem Sinne neun
Bahnen in die Auflösung, aus der dann eine
Regenerierung und Neugeburt des Daseins erfolgen
kann.
©
Pravu Mazumdar 2001
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