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Ver-rücken
vom Kritzeln, Formate verlassen und
der Kostbarkeit des Augenblicks
Vignetten aus anderen Wahrnehmungswelten
Christine Vogt

 

Eine dünne Membran trennt das Alltagsbewusstsein vom Unbewussten, daher kann der Balanceakt zwischen gestaltender Kraft und zerbrechendem Ich in der Entgrenzung zur Gratwanderung werden. Das Fragen nach der Norm, den Übergängen, der möglichen anderen Ordnung, wie sie im Kritzeln oder im Tanzen sich alltäglich äußert, wird zu überraschenden An-ordnungen im Umordnen und Ver-rücken.
Vortrag mit performativem Element.

Vortrag für Pfingstsymposion in München (2.6.2001)

Poet (13)*

„Da waren sie alle an einem Ort beisammen. Und plötzlich entstand vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein gewaltiger Wind daherfährt, und erfüllte das ganze Haus worin sie saßen.
Und es erschienen ihnen Zungen, die sich zerteilten, wie von Feuer, und es setzte sich auf jeden unter ihnen. Und sie wurden alle mit dem Heiligen Geist erfüllt und fingen an, in anderen Zungen zu reden, wie der Geist ihnen auszusprechen gab.
Als aber dieses Getöse sich erhob, lief die Menge zusammen, und sie wurde verwirrt; denn jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden, jeder in der Sprache, in der er geboren war.“

(Apostelgeschichte 2, Vers 2)

Schafe (2)

Der Begriff der Schöpfungslust lässt mich stolpern, denn die Schöpfung ist einem Gott oder zumindest gottähnlichen Wesen vorbehalten, während die Lust doch einigermaßen menschlich ist. Andererseits impliziert Schöpfungslust den Gedanken, dass die Schöpfung, so wie sie ist, stümperhaft und unvollkommen sei, dass wir uns also an ihrer Vollendung betätigen sollen. Na bitte.
Wir wissen mittlerweile, dass wir uns unsere Wirklichkeit immer wieder aufs Neue selbst schaffen, eigentlich ständig in schöpferischem Prozess begriffen sind, indem unsere Retina und unser Gehirn die uns umgebenden Schwingungen übersetzen, aber wo und wann sind wir bewusst Schöpfende und noch dazu mit Lust Schöpfende?
Angenehm, wie sich der Begriff der allzusehr zu Auswucherung tendierenden „Kreativität“ hinter die Schöpfungslust duckt.
Jedoch, es gibt sie, die Lust am Schöpfen, an der Kreation jenseits von dem, was Modezeitschriften suggerieren, während andererseits jeder, der sich professionell mit ästhetischen oder künstlerischen Prozessen auseinander setzt, viel eher die Wehklage angesichts des täglich aufklaffenden Abgrundes anzustimmen geneigt ist als vor seinem stümperhaften Klecks auf der Leinwand oder in seinem täglich aufs Neue untrainierten, ächzenden Körper auch nur ein Quäntchen Lust zu verspüren, „weil jeder schöpferische Vorgang sehr stark mit Grundproblemen des Ich-Ideals und mit den Schwierigkeiten des narzisstischen Gleichgewichtes verwoben ist. Kunstproduktion ermöglicht das Erfahren der eigenen Abgründe, sie bedeutet eine Konfrontation eher mit dem Scheitern als mit dem Gelingen. Sie geht mit Erkenntnisgewinn über das betroffene Subjekt einher und ist die radikalste Formfindung menschlicher Subjektivität - oder sie bleibt nur ein möglicher Vorgang des Gestaltens, Bastelns ohne Werkcharakter, Intensität und Entschiedenheit.“
(F. Jadi, Maler, Analytiker und Professor für Kunsttheorie)

Einfall: Was wäre, wenn all jene Architekten, welche sich am Potsdamer Platz in viel Schöpfungslust ergangen haben, losgelassen würden, ihrer Schöpfungslust keine Grenzen gesetzt wären? Wehe dann den unverbauten Plätzen, letzte Refugien einer urbanen Gesellschaft. Und wenn alle Zadeks, Fassbinders und Kresniks ihre Obsessionen nicht in Werke (ver)bannen würden? Wehe dann den Frauen ... Manch einer braucht wohl die Begrenzung der Schöpfungslust, um nicht kriminell zu werden.

Wellen (24)

Wir sind an diesem Ort beisammen, um uns einem hedonistischen Gedanken, nämlich der Lust am Schöpferischen, zuzuwenden.
Wie kommt es zur Lust? Oder anders gefragt, welcher Mangel ist Voraussetzung für jene Lust, von der im Flyer zu dieser Veranstaltung gefragt wird, ob sie möglicherweise der Sehnsucht nach etwas anderem entspringe und uns deshalb Gewohntes verlassen ließe, um dann nach einem vagabundierenden Suchen Neues zu schaffen. Wie auch immer ...
Ein Stück Innenwelt scheint verlorengegangen zu sein, der man sich schöpfend, gestaltend zu nähern versucht. Um den Lauf der Zeit anzuhalten oder um eine Gegenwelt zu erschaffen, einen anderen Topos wirklich werden zu lassen?

Rülpsquelle (18)

Einfall: In der nachnapoleonischen Zeit, am Anfang des 19. Jhs., als - nehmen wir an - kein Geld und wenig Lust vorhanden war, weiterhin in exorbitante Heere zu investieren, entstanden rund um Potsdam die bezauberndsten Schlösser und Gärten, von mir in Vorbereitung dieses Anlasses ausgiebig er-radelt. Inbegriff der Sehnsucht und des Genusses, des Romantischen, welches ursprünglich romanhaft, fabulös bedeutete und ganz im Gegensatz stand zum Verstandesmäßigen, Rationalen der Aufklärung, sich im Feld des Gefühlvollen und Ahnungsreichen aufhielt. Alle Pracht nur Reaktion auf die durch Rationalismus geprägte Epoche der Aufklärung, oder formuliert sich hier ein ursprüngliches Prinzip, nimmt Gestalt an ...?
Was uns Potsdam und vergleichbare Paradiesgärten und Anlagen zeigen: Es ist da eine innere Verbindung zwischen der sinnlichen Pracht und der Ruine. Schöpfung aus dem Ruinösen, aus dem Nichts. Schöpfung ist ohne ein Nichts nicht denkbar.
Einfall: Ein Blick in die Evolution veranschaulicht dies: Zweimal wird alles Leben bis zu zehn Prozent ausgerottet, das erste Mal um 250 Millionen Jahre vor uns durch den Einschlag eines Meteoriten, Frucht der Katastrophe: die Evolution der Saurier. Dann das zweite Mal: vor etwa 65 Millionen Jahren wieder ein Asteroideneinschlag bei Mexiko, wie man heute weiß. Frucht: das Ende aller Saurier. Überlebt hat nur ein mausartiges Tierchen, ein Säugetierchen, aus dem alle größeren Lebewesen kommen, auch wir Menschen. Nein, die Vögel haben auch überlebt und einzelne Echsenarten sowie Schildkröten. Die über 250 Flutmythen künden von den Nullpunkten ...
Schöpfen und scheitern. Das Scheitern gar als Voraussetzung für Schöpferisches? Schöpfung geschieht aus dem Nichts.

Thikwà 1
Mühsam robbt sich die zum Gehen unfähige Sophie über eine Zehnmeterdistanz auf der Bühne des Maxim Gorki Theaters. Fünf lange, stille Minuten dauert es, bis die Kriechende, bisweilen laut stöhnend, sich ab und an des sie verfolgenden Scheinwerfers versichernd, das Sofa erreicht und die dort lagernde, zusammengekrümmte Gestalt zum Leben erweckt.
Sophie hat nur einen gut funktionsfähigen Arm. Alle anderen Extremitäten sind gelähmt. Es ist ein Akt äußerster Anstrengung, wenn sie ihren kleinen, gekrümmten Körper nach vorne zieht, den schweren Kopf nur wenige Zentimeter über dem Boden empor gestreckt oder erschöpft ihn senkend.
Die Gestalt am anderen Ende der Bühne rollt sich aus ihrer Decke, springt auf und beginnt eine klamaukige Unterhaltungsshow. Prolog zum Stück „Im Stehen sitzt es sich besser“
(Theater Thikwà Berlin, 1990)

Scheitern und schöpfen

Einfall: Die vor Wildwuchs und floraler Vielfalt überbordenden Gärten in der früheren DDR: gescheiterte politische Utopie, darin aber Datschen, welche zu wahren Heterotopien gediehen und nicht nur den Gartenzwergen Schutzraum und zu Wirklichkeit gewordene Utopien waren. Gegenwelten zu rigiden politischen Systemen.

Einfall: In Armenien, am Rande der Hauptstadt Erewan, hatte ich im vergangenen Sommer die Gelegenheit, einem weiteren Geschöpf aus jenen sozialistischen Zeiten zu begegnen. Ein weit über 70-jähriger Mann hatte sich am Abhang sein Haus in den Fels gehauen. Aus eigenem Antrieb und ohne Zuhilfenahme von maschinellem Werkzeug. Seit über 25 Jahren ist er dabei, sein Werk zu vollenden. Ein wunderbarer Dilettant, im Umkreis als Felsenmann und Künstler bekannt.
Oder: Simon Rodia in Wattstower, welcher sich in den 20er-Jahren in einem Niemandsland außerhalb von L. A. sein Haus gänzlich aus Glasflaschen und Geschirr baute. Bizarres Paradies im Niemandsland. Grund der eigenwilligen Unternehmung: Der Glasbauarchitekt, ein gebürtiger Spanier, war arm, in den USA der 20er-Jahre kein Einzelfall, und holte sich seine Baustoffe dort, wo sie anderenorts weggeschmissen wurden.

Schöpfung trotz Mangel?

Steinmetz (17)

Der Trotz, die rigiden Gegebenheiten nicht einfach hinzunehmen, machte sie erfinderisch. Behausungen am Abhang, Abgrund, am Rande der Stadt oder im verlassenen Niemandsland. Grenzgänger beide. Ihnen und anderen gilt seit Jahren meine Aufmerksamkeit und Liebe. Verrückte Spinner oder schöpferische Geister?
Die Frage nach der Norm und deren Abweichung in ihrer Verflochtenheit mit den Phänomenen des Schöpferischen ist alt. Das Schöpferische ist ja oft eine Auflehnung gegen die Norm. Entgrenzung der gewohnten Wirklichkeit, Aufreißen des vertrauten und bekannten Horizontes, Selbstverlust mit dem Wunsch, sich selber neu zu gewinnen, sich neu zu erschaffen ...



Eine dünne Membran nur trennt das Unbewusste vom Bewussten. Ihre Beschaffenheit ist manches Mal ausschlaggebend für eine Existenz auf dem Planeten der Verrückten oder auf jenem der Normalneurotischen.
So lese ich in dem Buch von G. Benedetti, dem Schweizer Psychoanalytiker, der sich intensiv mit psychiatrischen Aspekten des Schöpferischen und schöpferischen Aspekten der Psychiatrie befasst, über den kranken Dichter Torquato Tasso:
„Seine Anfälle sind so gut begreiflich, da ihre Beziehung zu Irrsinn nur die bösartige Nachrede einflussreicher Gegner oder jener Philister zu sein scheint, die sich nicht vorstellen können, dass eine edle Seele imstande ist, über die Schlechtigkeit der Menschen außer sich zu geraten. Denn Tasso war ein adeliger Mensch, sein Verfolgungswahn nichts anderes als das ewige Leiden des Sängers an der Disharmonie der Welt, das in der Neuzeit nicht mehr für heilig, sondern für krank gehalten wird. Seine große Unruhe brach aus, als er das ,Befreite Jerusalem’ abgeschlossen und die Handschrift den Freunden und Zensoren vorgelegt hatte. Die Kritik, die er zu hören bekam, und die Furcht vor der Verurteilung des Werkes durch die Inquisition brachten seine durch Arbeit erregte Seele aus dem Gleichgewicht. Er sah sich rings von Feinden umstellt; seine Furcht verdichtete sich zum Gedanken, er könnte sich gegen die Religion versündigt haben.“
Ersetzen wir die Inquisitoren durch Galeristen und schlecht gelaunte Theaterkritiker, so scheint auch im 21. Jh. die Überreaktion der im Mittelalter geprägten Seele nicht unvernünftig zu sein. Manch einer unter uns neigt dazu, seine schöpferischen Impulse eher im stillen Kämmerlein auszuleben als sie etwa durch Veröffentlichung in Form von Ausstellung, Theaterproduktion oder eines Vortrages der potenziellen Kritik und den Abgründen des eigenen Selbst auszusetzen. Und der Analytiker Benedetti fährt fort:
„Das schließt aber nicht aus, dass man auf die Furcht vor der Inquisition sowohl wie ein Tasso als auch wie ein Galilei reagieren kann: und dass eine schwere Liebesenttäuschung sowohl eine normale Ernüchterung, Erschütterung oder gar vorübergehende Verzweiflung wie auch eine reaktive Psychose auslösen oder schließlich den Anfang eine Schizophrenie markieren kann.“

Thikwà 2
Plötzlich hat Walter, der amerikanische Offizier, die Bühne verlassen. Sein Hocker bleibt leer. Das verabredete Stichwort, mit dem Sneewittchen abermals zum Leben erweckt werden sollte, und zwar diesmal wegen der Hochzeit mit dem Uniformierten, bleibt aus. Da der Beleuchter auf Tournee gleichzeitig die Funktion des Betreuers hat, verlässt er die Beleuchterloge, und wir übrigen Schauspieler verbleiben praktisch im Dunkeln. Der Lichtwechsel bleibt aus. Sneewittchen pennt weiter, und wir improvisieren. Rufen in den dunklen Zuschauerraum: „Walter!“ ...
Eine Ewigkeit vergeht, da schreitet er von der obersten Zuschauerreihe in Richtung Bühnenrampe hinunter. Schreitet? Nein, latscht er, schlurft er. Sein Kostüm jetzt: Badeschlappen, offenes Hemd, keine Mütze auf dem Kopf. Ansonsten alle Attribute des Offiziers. Ein Offizier in flagranti - und der latscht singend: „Wenn ich einmal reich bin ...“

Grenzgänger zwischen den Welten. Manch einer von ihnen ist einfach allzu durchlässig für die Spannungen und Widersprüche des Daseins, die wir normalerweise ausklammern, verdrängen, während sie ihn scheitern lassen. „Der Andersheit der anderen Raum zu lassen heißt immer auch, der eigenen Andersheit zu begegnen - insbesondere wenn der logisch-sprachorientierte Diskurs durch den präsentativ-ästhetischen zurückgedrängt wird. Während die Verrücktheit der Normalen (manchmal und freiwillig) auf Bühnen ausgestellt wird, ist die Normalität der Verrückten dagegen (fast immer und meist unfreiwillig) in Institutionen eingeschlossen. Der eine kann wählen, der andere nicht, dies ist ein wesentlicher Unterschied.“
(H. Seitz, Professorin für ästhetische Praxis an der FH Potsdam)

Thikwà 3
Später, beim Bier in der Bar, hatte ich Walter gefragt, welche Tarantel ihn während der Vorstellung gestochen habe. Sein Blick, welcher meiner Frage folgte, signalisierte mir, dass etwas ihn tief gekränkt haben musste. Er lasse sich doch nicht einfach so beleidigen, meinte er, zumal nicht als amerikanischer Offizier. Nun war ich es, die ich ihm mein Unverständnis entgegenbrachte, jedoch war der Fall bald aufgeklärt.
In der vordersten Zuschauerreihe saß nämlich ein taubstummer Knabe, welcher sich während der Vorstellung mit seiner Mutter in Gebärdensprache unterhielt. So geschah es, dass der Junge im ersten Teil des Stückes jene von Walter missverstandene Gebärde ausführte. Was für den Jungen, indem er sich an die Schläfe tippte, ein Stück Dialog mit der Mutter war, bedeutete für Walter das Zeichen des Vogels: „Hast wohl ne Meise, wa?“, worauf er sich gekränkt in die Künstlerloge zurückzog, um sich dort sofort ins Bett zu legen.
Ver-rückungen. An der Spannung durch die Gegensätze und Lebenskontraste kann das Ich zerbrechen oder aber gerade an diesen die gestaltende Kraft entfalten. Dann gilt es, die schmerzliche Spannkraft des eigenen Seins auszuhalten.

Kerzen (21)

„Psychopathologie und Kunst können ein unbewusstes Mittelglied haben, das mit der Welt des Traumes verwandt zu sein scheint. Ich denke hier an die Eigentümlichkeit der menschlichen Träume, die durch Verdichtung und Transponierung der Formen, durch Verabsolutierung gewisser Denkinhalte, eine radikalisierte Wahrheit aussprechen, die niemals durch das logische Abwägen zugänglich wäre. Das Über-Ich, ein abstrakter Begriff, erscheint dem Träumer z. B. als konkrete Fratze, auf dass er endlich von dessen Maßlosigkeit erschüttert werde. Der Maler Magritte lässt die Unmenschlichkeit, die uns zuweilen selbst in der Liebe als eine letzte Anonymität trennt, ins Räumliche vorprellen, als tatsächliche Maske erscheinen, woraus ein Gefühl der unbegrenzten Einsamkeit resultiert. Gerade die Dichtung und die Kunst konfrontieren uns mit Phänomenen, die ein Bindeglied zwischen Krankheit und Erleben der Traumtiefe darstellen.“
(G. Benedetti)

Thikwà 4
Weil ich für einige Monate nicht in Berlin bin, schreibt mir Anke einen Brief:
„Liebe Christine. Ich wünsche Dir weiterhin ein würziges Leben, ein Idealherz, ein laues Machsoweiter, ein Dirndl, Gesundheit und einen neuen Zeh. Nicht umkippen. Viele Schritte noch laufen wollen. Kräftige Haltung, rote Lippen, eine Kur mit Spaß, gelber Walzermusik und Sahnetorte.“

Thikwà 5
Auf Tournee sagt Oliver zu mir: „Ick schulde dir noch ne Mark, wa?“ Ich: „Ja, aber die schenk ich dir.“ Er: „Geil, wann krieg ich sie“?

„Der Bereich des Schöpferischen ist heute weitgehend der psychologischen und psychoanalytischen Erforschung entrückt. Beim Versuch, sich ihm zu nähern, hat man meistens nur gerade das erfasst, was man als das Material des Schöpferischen bezeichnen kann. Die Quelle bleibt verborgen.“
(G. Benedetti)

Wo ist sie, diese verborgene Quelle?

Meine Schöpfungslust nährt sich an der Begrenzung, an der scheinbaren Unmöglichkeit. So habe ich, nach einer von fünf Hüftoperationen an zwei Krücken gebunden, mich nicht abhalten lassen, in einer großen Berliner Disco zu tanzen. Indem ich alle durch die starke Einschränkung noch möglichen Bewegungen ausprobierte, gleichsam meinen neuen Bewegungsradius auf einem Bein erforschte, näherte sich mir ein junger Mann mit der Bemerkung, ich würde so gut tanzen können. Nie habe ich in allen darauf folgenden Jahren jenen Augenblick vergessen, in dem es nicht um das schüchtern vorgebrachte Kompliment des Tänzers ging, sondern um das innere Erleben einer ungewohnten und für mich neuen Bewegungsästhetik, welche sich aus der Quelle des Verhindertseins speiste. Initialzündung für Thikwà, welches ein paar Jahre später gegründet wurde.
Meine Schöpfungslust entzündet sich aber auch am existenziellen Wunsch, dem Lauf der Zeit Einhalt zu gebieten, ein Denk-mal gegen die Mortalität zu schaffen.
Zitat aus meinem Probentagebuch 1984: „In den letzten fünf Minuten vor dem Auftritt meine ich jeweils überzulaufen vor Erwartung und Spannung. Ich bin voll und leer zugleich, gebündelte Konzentration und spüre wie selten meine Existenz. Ich bin ich, und ich bin Komatschi, die Figur. Dann betrete ich die Bühne und nehme die vielen erwartungsvollen Menschen wahr, denen kein Zittern in meinem Körper entgeht, die jeden Faltenwurf meines Kostüms beobachten. Solche Momente geben mir die Möglichkeit, durch das Hier und Jetzt, welches ich mit dem Publikum teile, mich als unverwechselbares Individuum zu empfinden und dem Vergehen der abendlichen Zeit durch das Spiel Einhalt zu gebieten. Kunst hat etwas zu tun mit der Kostbarkeit des Augenblicks.“

Thikwà 6
Ein Mann hält eine schmale Leiste senkrecht vor Nase und Stirn. Unendlich langsam, wortlos, konzentriert, lässt er sie an seinem Körper herabgleiten bis zwischen die Beine. Vor einer schnöden Holzwand mit Rollen steht er. Dahinter, nur durch ihren Schatten verraten, eine stumme, schwarz gekleidete, das rollbare Geheimnis noch nicht schiebende Dienerin, eine Hexe?
Ist das der wandernde Wald von Birnam oder nur eine mit einem auf die Bühne verbannten Sisyphus? Er: ein 102 kg schwerer Mann mit so genannter geistiger Behinderung. Ich: eine der so genannt normalen Schauspielerinnen des Theaters Thikwà in Berlin. Er entführt in eine endlose ewige Zeit, ich, hinter der Wand mit Stoppuhr in der Hand, schiebe das rollbare Gefährt nach exakt fünf Minuten in einen anderen Winkel, signalisiere meinem Kollegen, dass die reale Zeit abgelaufen sei.
Jedoch, was ist die reale Zeit? Nach der Vorstellung Publikumsdiskussion: Eine Zuschauerin fragt den geistig Behinderten: „Weißt du denn überhaupt, was du spielst am Anfang?“ In ihrer Frage liegt unüberhörbar die vermutete Antwort. Der linkshemisphärisch gestörte Mann kann doch nur vom Regisseur missbraucht worden sein, hineingezwängt in eine Rolle, die er nicht versteht. Er: „Ich bin die Zeit, die über die Bühne rollt.“

Versuch einer Zusammenfassung:
Wir haben nach der Voraussetzung für die Lust am Schöpferischen gefragt in der Annahme, dass nicht der Überfluss, sondern der Mangel dafür die Triebkraft bildet. Ruine, Nullpunkt. Nichts, Scheitern wären dann Metaphern hierfür.
Sind auch auf die Sehnsucht gekommen, Sehnsucht nach der verlorengegangenen Innenwelt und deren Rückeroberung. Mehr noch als dies: Zur bestehenden Welt will eine Gegenwelt erschaffen werden. Trotz und Auflehnung, rigide Gegebenheiten nicht hinzunehmen, machen erfinderisch, lassen ungeahnte schöpferische Kräfte fließen. Der Felsenmann am Stadtrand von Erewan und der Glasflaschenarchitekt aus L. A. sowie viele ihresgleichen stehen mit ihren bizarren Behausungen dafür.
Schließlich haben wir uns der Frage nach der Norm und deren Abweichung in ihrer Verflochtenheit mit dem Schöpferischen zugewandt. Haben ab und zu von den Grenzgängern zwischen den Welten gehört, wie sie im Theater Thikwà und vergleichbaren künstlerischen Projekten mittlerweile anerkannte Mitglieder der Gesellschaft sind, wobei das schöpferische Tun oft einzige Überlebenschance ist. An dieser Stelle sei betont, dass nicht jeder Behinderte ein Künstler ist und nicht jeder Künstler im pathologischen Sinne verrückt.
Weit auseinander liegen die verschiedenen Welten freilich nicht von den unseren. Ver-rücken wir die Parameter unserer eigenen Wahrnehmung um Haaresbreite, lassen uns einen Augenblick ein in die uns aus der Tiefe des Traumes wohl vertraute Welt mit ihrem phantastisch-bizarren Personal, ihren dem Alltagsbewusstsein disharmonisch klingenden Tönen ... wäre mit unserem versammelten Schöpfungspotenzial in der virtuellen Globalisierung eine Kathedrale der jeweils eigenen Zeit zu errichten. Im Ver-rücken freilich ächzen die alten Strukturen, werden Grenzen hin zum Fremden überschritten und vielleicht überraschende An-ordnungen probiert.

Poet (13)

„Da waren sie alle an einem Ort beisammen. Und plötzlich entstand vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein gewaltiger Wind daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, worin sie saßen.
Und es erschienen ihnen Zungen, die sich zerteilten, wie von Feuer, und es setzte sich auf jeden unter ihnen. Und sie wurden alle mit dem Heiligen Geist erfüllt und fingen an, in anderen Zungen zu reden, wie der Geist ihnen auszusprechen gab.
Als aber dieses Getöse sich erhob, lief die Menge zusammen, und sie wurde verwirrt; denn jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden, jeder in der Sprache in der er geboren war.“

Tauben (25)


*Einspielungen von Geräuschen und Klängen, die Christine Vogt auf einer Reise von der Mongolei nach Armenien aufgezeichnet hat

 
   

 
 
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